Meine Tageszeitung ist das Internet – ein paar Gedanken zum Zeitungssterben

Politik

Verkaufte Auflage der Tageszeitungen in Deutschland von 1991 bis 2012 Das Ende so renommierter Zeitungen wie der Frankfurter Rundschau und der Financial Times Deutschland treibt momentan viele Menschen um und führt zu einer Diskussion über die Zukunft des Journalismus in Deutschland. Denn jeder weiß: Wir stehen erst am Anfang. Deutschlands Zeitungen haben seit der Jahrtausendwende ein Fünftel ihrer Auflage verloren. Zaghafte Verlagsmanager und die Vorstände der großen Medienhäuser haben in der letzten Dekade sehr viele Chancen verpasst und nun müssen leider die Mitarbeiter in den Redaktionen darunter leiden. Eine Demokratie braucht aber guten Journalismus, der sorgfältig recherchiert und hinter die Kulissen schaut. Die Herausforderungen, den Journalismus an die neue Zeit anzupassen, sind so groß sind, das sie auch uns Politiker nicht kalt lassen.

Guter Journalismus braucht ein Geschäftsmodell
Wenn man guten Journalismus haben will, egal in welchem Medium, ist es immer notwendig, dass man damit Geld verdienen kann. In Hamburg haben wir seit Jahrzehnten große Medienhäuser, die mit dem Vertrieb von Journalismus gutes Geld verdient haben. Es wäre an der Zeit, wenn diese sich neu erfinden würden. Im Zuge der Digitalisierung wachsen Geschäftsfelder zusammen. Die bisherige Aufgabenteilung muss neu gedacht werden und neue Verbreitungsformen erschlossen werden. Die Digitalisierung hat zahlreiche Verbreitungshürden weg gerissen. Jetzt geht es darum, diese Reichweite ausreichend zu monetarisieren. Wenn das gelingt, kann auch qualitativ hochwertige Berichterstattung dauerhaft gesichert werden.
Das Internet ist meine Tageszeitung – Der Zeitungskiosk sind meine Internet-Kontakte
Die bisherige Verbreitung von Nachrichten in Form von bedrucktem Papier wird in absehbarerer Zeit nicht mehr die primäre Verbreitungsform sein. Nachrichten sind ein Fluss und Papier ist einfach zu statisch. Für aktuelle Ereignisse ist die Zeitung einfach zu langsam. Heute erreichen mich die Nachrichten anders als früher. Ein Beispiel aus meinem Alltag: Ich stehe an der Busstation und über Twitter werde ich auf einen interessanten Artikel aufmerksam gemacht. Die kurzen Meldungen werden sofort gelesen, die längeren Artikel landen im Speicher von „Pocket“ und werden später am Rechner oder auf dem iPad gelesen. In der Mittagspause lese ich über „Flipboard“ die Hauptmeldungen meines sozialen Newsfeeds. Meine Tageszeitung ist das Internet. Mein Zeitungskiosk ist mein soziales Umfeld auf Twitter und Facebook. Mit meinem sozialen Umfeld im Internet teile ich nicht nur die Artikel, sondern diskutiere diese. Das zufällige Entdecken von Artikeln, welches das Durchblättern einer Tageszeitung früher so spannend machte, geschieht heute eben durch Hinweise meiner Netzkontakte.
Das Gejammer über die Kostenloskultur bringt uns nicht weiter
Ich frage mich seit langer Zeit, warum es den Verlagslenkern so schwer fällt, daraus ein tragfähiges Geschäftsmodell zu machen. Häufig wird dann der Kampfbegriff der vermeintlichen „Kostenloskultur“ im Internet angeführt. Ich halte das für eine Ausrede. Erstens sollte man aufhören zu buddeln, wenn man in einem Loch ist und zweitens hat niemand die Verlage gezwungen, ihre Meldungen kostenlos ins Netz zu stellen. Dies war eine freie Entscheidung.
Aber die Leute haben sich doch daran gewöhnt, heißt es dann. Die Zahncreme lässt sich nicht mehr in Tube zurückdrücken… Wirklich? Amazon hat um den Buchverkauf herum ein tragfähiges Geschäftsmodell aufgebaut und investiert Unsummen in den Aufbau der eigenen eBook-Vertriebsinfrastruktur. Ein Computerkonzern wie Apple hat mit iTunes, AppleTV und iBooks aufgezeigt, wie man mit der Verbreitung von Medien Geld im Internet verdienen kann. Die ehemals gut gefüllten Kriegskassen der Verlage wären eine gute Ausgangsposition gewesen. Nun wird es sehr schwer…
Anpassung an die neuen Anforderungen
Aus meiner Sicht sind die Baustellen offensichtlich. Es sind die veränderten Kanalbedingungen, die angegangen werden müssen. Journalismus muss heute crossmedial aufbereitet und vertrieben werden. ePaper auf dem iPad? Ich dreh doch auch nicht die Farbe bei meinem Fernseher ab. Die veränderten Nutzerbeziehungen durch Social Media eröffnen ganz neue Möglichkeiten. Erschreckend, dass mir im Jahr 2012 nur zwei Hamburger Journalisten einfallen, die hier gut aufgestellt sind. Die veränderten Darstellungsformen durch das Internet sind auch noch lange nicht in den Medien angekommen. Wo sind die Kurzformen, wo die Infografiken, wo sind die ergänzenden Videos? Hier sind die Journalisten gefordert mit der Technik mitzuziehen. Mit einem iPhone lassen sich heute kinderleicht auch kleine Videos zu dem Bericht hinzuzufügen. Auch die Eventberichterstattung wird immer noch in sperrige Ticker-Formate gepresst anstatt sie in virale Twitter-Accounts in die Freiheit zu entlassen. Dies alles hat etwas mit Qualifikation, mit der Erlaubnis zum Experiment und natürlich auch mit dem zeitlichen Budget der Journalisten zu tun. Wer jetzt schon unter Zeitdruck steht, wird für Twitter und Co kaum den Nerv haben. Wer beim Scheitern einer Ideen um seinen Job bangen muss, überlegt es sich zweimal, diese vorzubringen und wer noch nie mit iMovie umgegangen ist, wird auch kaum ein ansehnliches Video zu Stande bringen.
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Der Kunde gehört in den Mittelpunkt
Im Zentrum aber sollte der Leser – also der Kunde – stehen. Das sage ich nicht nur, weil ich aus dem CRM-Bereich komme, sondern weil es meine feste Überzeugung ist. Ein Geschäftsmodell funktioniert nur, wenn der Kunde es akzeptiert. Voraussetzung dafür, dass der Leser Paid Content akzeptiert, sind exklusive Inhalte. Diese zu produzieren dürften z. B. gerade für Lokalzeitungen kein Problem sein. Die Nutzungsgewohnheiten der Kunden sollten der Ausgangspunkt sein. So wie die wenigsten Leute ein ganzes Album kaufen, weil ihnen ein Lied gefällt, so wenig wollen sie gleich ein Monatsabo für den Lokalteil des Abendblatts abschließen und die Preise müssen nachvollziehbar sein. Warum soll man für elektronische Medien gleich viel oder sogar mehr bezahlen, als für ein Printprodukt?
Und es muss dem Kunden einfach gemacht werden, sein Geld loszuwerden. Leider ist das Gegenteil häufig der Fall. Denn wenn ich schon bezahlen möchte, wird es mir sehr schwer gemacht. Ich frage mich, ob überhaupt einer der Designer der Abendblatt-Paywall jemals versucht hat, hier einen Account zu registrieren. Bürokratie at it’s best… Micropayment via PayPal, Amazon oder SMS gibt es auch schon ein paar Tage länger. Warum werden nicht die Erfahrungen aus anderen Bereichen aufgegriffen?
Der Hamburger Medienstandort bietet die besten Voraussetzungen
In Hamburg liegen alle Karten auf dem Tisch. Wir sind in allen Segmenten der Medien- und Digitalwirtschaft stark aufgestellt. Hier sind die Verlage, große Internet-Player und findige Start-Ups beheimatet. Hier sind die Hochschulen und Bildungseinrichtungen, die für qualifiziertes Personal sorgen. Hier finden laufend Branchenevents statt, wo die Köpfe der Szene zusammengeführt werden. Redet doch mal miteinander! Denn wo, wenn nicht hier, könnten gemeinsam Ideen entwickelt werden, die die drei oben genannten Baustellen angehen? Von hier aus könnte beispielsweise eine gemeinsam getragene Vermarktungsplattform entstehen. Aber wann unterhalten sich die Verleger endlich mit den Gamern über Payment, wann mit der Musikwirtschaft über die Lehren aus der digitalen Verbreitung von Musik, wann mit den Experten der digitalen Werbung? Ich könnte die Liste fortführen, aber der Text ist eh schon zu lang geworden.
Liebe Medienmacher, wacht auf und nutzt die Chance, sonst tun es andere!

9 Gedanken zu „Meine Tageszeitung ist das Internet – ein paar Gedanken zum Zeitungssterben“

  1. Ich unterteile den deutschen Journalismus nicht in E- und U-Journalismus. Ein Text ist gut oder nicht. Ein Bild ist aussagekräftig oder nicht. Ein Video berührt mich oder nicht. Musik lässt etwas in mir klingen oder nicht. Es bewegt etwas oder nicht. Gut oder nicht gut. Das zählt für mich. Nicht E oder U. Boulevard oder Bibliothek, Online oder Offline, Papier, Digital, Marmor oder Granit, guten Journalismus kann es überall geben. Und in jedem Medium.

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  2. Der Content muss erst einmal stimmen. Das ist die Voraussetzung. Die Diskussion über das Geschäftsmodell und somit die Monetarisierung bzw. die Refinanzierung des Produkts ist eine gesonderte Diskussion, die auf einem anderen Blatt steht. Wer sagt denn, das der Leser sein Lesevergnügen bezahlen muss? Da gibt es eine große Bandbreite an kreativen Lösungen. Modellen, Konzeptionen und Ansätzen. Diese Diskussion wird kaum geführt momentan. Ich habe nicht den Eindruck, dass Verlage und andere professionelle Anbieter sich aktuell damit lösungsorientiert auseinander setzen. Es würde sich lohnen, es zu tun. Das wird auch in Kürze passieren, wegen des großen Drucks in der Branche.

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  3. Dazu müsste man aus den Vorstandsetagen wieder hinab in die Maschinenräume des Journalismus-Betriebs steigen. Quasi ein neuer Gründergeist. Das ist es, was ich mit meinem Aufruf ansprechen wollte. Wollen wir hoffen, dass es passiert. Sonst findet die Innovation wo anders statt.

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  4. Dass Qualitätsjournalismus skalierbar und im großen Stil machbar ist, zeigt das internationale Fernsehen beispielsweise mit http://edition.cnn.com/ oder http://www.aljazeera.com/, die ihre TV-Kanäle mit Webservices ergänzend gut verbinden. Es geht also. Im Print die vielzitierten Titel Guardian, Boston Globe, Zeit und Süddeutsche und viele kleinere Titel im Special Interest Bereich.
    In diesem Zusammenhang eine persönliche Anmerkung zum „Next Media Think Tank“ in Hamburg. Eine sehr lobenswerte Initiative. Ich freue mich sehr über die regelmäßigen Einladungen, daran teilzunehmen. Ich würde mich aber noch mehr freuen, wenn dort konkrete und machbare Ziele definiert werden, auf die hingearbeitet werden kann. Was mir dort fehlt, ist eine klare Mission. Greifbare Ergebnisse, die schrittweise zu konkreten Services oder Produkten der Hansestadt führen, fehlen mir. Es droht, unverbindlich zu werden. Zu einem Kamingespräch. Es fehlt ein Projektmanagement, das konkrete Fragen stellt und konkrete Ziele setzt, Footprints hinterlässt. Das diese Initiative fachkundig in einem Zeitraum und nach einem Zeitplan zügig und effizient vorantreibt. Sonst drehen wir uns alle im Kreise und betreiben intensiven Bauchnabelschau. Sorry for being so frank.

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