Frisch gelesen: Uwe Tellkamp, Der Turm

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Schon länger auf dem Nachttisch, nun endlich durchgelesen: Uwe Tellkamps mit dem Deutschen Buchpreis prämierter Roman „Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land.“. Tellkamp beschreibt wie in einem Kaleidoskop die letzten sieben Jahre der DDR bis zum Mauerfall aus der Sicht dreier Hauptpersonen aus dem bildungsbürgerlichen Villenvierteln Dresdens. Hinzu kommt ein  geradezu überbordendes Begleitpersonal aus Parteibonzen, Lektoren, Schülern, Soldaten, Künstlern, Sprösslingen der Nomenklatura, Krankenschwestern, Anwälte und Republikflüchtlinge, Zensoren und Chefärzte. Ab und an musste ich doch ein paar Seiten zurückblättern, um die Namen wieder in ihren Zusammenhang zu bekommen.
Der Roman beschreibt den Leidensweg Christian Hoffmanns, der zu Beginn der Romanhandlung 17 Jahre alt ist und Arzt werden will. Hierzu muss er nicht nur ein exzellentes Abitur ablegen, sondern sich im Sinne des Sozialismus gesellschaftlich engagieren. Um seinen Studienplatz zu sichern muss er seinen Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee durch Freiwilligen Wehrdienst auf drei Jahre verlängern. Nach dem Unfalltod eines Kameraden macht er sich durch ungeschickte Äusserungen über das System der DDR gegenüber Vorgesetzen strafbar, was ihm einen Aufenthalt im NVA-Militärgefängnis Schwedt Zwangsarbeit und eine Dienstverlängerung von zwei Jahren einbringt. Als zum Ende des Buchs der Systemverfall immer deutlicher wird und er am 3. Oktober 1989 einen Polizeieinsatz unterstützen soll, bei dem seine Mutter verprügelt wird, verweigert er sich dem System, wird aber nur mit Urlaub „bestraft“.
Der zweite Handlungsstrang behandelt Richard Hoffmann, Christians Vater und erfolgreicher Arzt. Dieser feiert zu Beginn der Handlung seinen 50. Geburtstag und erhält dabei von den Gratulanten wertvolle Geschenke, die in der Mangelwirtschaft der DDR schwer erhältlich sind. Die Denunziation seines Freundes Manfred Weniger vor Jahren beim Ministerium für Staatssicherheit machen ihn ebenso erpressbar, wie seine Affäre mit Josta Fischer, einer Sekretärin in Richards Krankenhaus. Eine weitere Affäre mit Christians Freundin Reina zerrüttet seine Beziehung nicht nur zu seiner Frau Anne, sondern letztlich auch zu Christian. Seine Frau ist am Ende der Handlung in der Oppositionsszene aktiv.
Der als Lektor arbeitende Meno Rohde ist Hauptperson des dritten Handlungsstranges. Er gehört zum „roten Adel“, da seine Eltern während der NS-Zeit in Moskau geschulte Kommunisten waren. Aus seiner Sicht wird der Kulturbetrieb der DDR genau beschrieben. Ständige Gewissensbisse plagen ihn, da er einerseits die Vorgaben der Kulturbürokratie beachten muss, andererseits aber den Autoren menschlich nahe steht, wenn diese wieder von der Zensur drangsaliert werden.
Sie alle verachten die graue Gegenwart mit den hohlen Phrasen der sozialistischen Gleichmacherei, lästigen Behördengängen, dem Schlangestehen und den Mangelerscheinungen. Sie verachten die allgemeine Hässlichkeit eines DDR-Alltags, der nur die Flucht in das Private als letzten Ausweg läßt und pflegen in ihr das Gute und Schöne, die Kultur und die Vergangenheit – „die süsse Krankheit Gestern“.
Die knapp 1.000 Seiten des Buchs durchzulesen hat etwas länger gedauert. Die Sprache ist unzeitgemäß ausufernd und teilweise sehr umständlich. Zwischenzeitlich hatte ich das Gefühl, Tellkamp hätte ein besonderes Verhältnis zum Semikolon, so oft wie er es verwendet. Der Turm ist halt kein seichter Schmöker, sondern ein sprachlich anspruchsvoller Roman, der in einer Fülle von Szenen, Bildern und Sprachformen das Panorama einer Gesellschaft entwirft, die ihrem Ende entgegentaumelt. Die eigentliche Handlung spielt nur eine sekundäre Rolle. Einzelne Kapitel beschreiben in erschütternder Weise die Art, wie das DDR-Regime seine Bürger gängelt und Druck auf diese ausübt. So z. B. das Tribunal über die Schülerin Verena, die es wagte, in einer Geschichtsklausur aus Protest ein leeres Blatt abzugeben. Erst Recht die gesamte Phase des Gefängnisaufenthalts von Christian. Beim Mauerfall endet das Buch. Tellkamp setzt hier keinen Punkt, sondern einen Doppelpunkt, der alles weitere offen lässt.
Tellkamp ist bemüht die DDR über Duft, Farben und Geschmack zu konservieren, durch Atmosphäre und Originalton der Gespräche. Es wäre von mir vermessen, würde ich behaupten, es gelänge ihm das Leben in der DDR treffend zu beschreiben. Dies kann ich mangels Erfahrung nicht beurteilen. Das Buch behandelt letztlich eine kunstvoll erdachte Welt innerhalb des Systems DDR. Die Wirkung des Buches entfaltet sich erst zum Abschluß. Aus dem völlig überladenen Anfang kommt allmählich die eigentliche Geschichte hervor. Es sind die Dialoge der Personen, die den Roman immer wieder auch spannend machen. Ich habe mich aber auch häufig dabei erwischt größere Stellen einfach zu überfliegen.
Insgesamt ist „Der Turm“ eine wirklich gelungene Rückschau der letzten Jahre aus einem versunkenen Land, die vielleicht hier und da etwas straffer hätte ausfallen können.

10 Gedanken zu „Frisch gelesen: Uwe Tellkamp, Der Turm“

  1. „Tellkamp ist bemüht die DDR über Duft, Farben und Geschmack zu konservieren, durch Atmosphäre und Originalton der Gespräche.“
    Es ist ihm gelungen, dafür bin ich Tellkamp dankbar. Außerdem muss ich dir Recht geben, etwas straffer und die Lesefreude wäre noch gesteigert gewesen.

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  2. Der Roman m.E. sehr langatmig bis langweilig auf 150 Seiten exzerptiert ,wäre er eventuell nicht schlecht.Die Sichtweise des Autors ist die einer privelegierten Schicht (Ärzte ,Schriftsteller ,Wissenschaftler!)
    T. beschreibt Dinge ,die er gemäß seiner Jugend nicht erlebt haben kann.Besonders die NVA-Passagen.Ich nie gerne Soldat aber diese Beschreibungen und der Jargon ,abenteuerlich.
    Keine Darlegungen über die wirklichen Verhaltensweisen der „normalen Menschen „der ehem. DDR.

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  3. Hallo Peter,
    dass es in dem Roman nicht um „normale DDR-Bürger“ geht, macht schon das Milieu deutlich, in dem er spielt.
    Ich hatte ein Interview mit Tellkamp gelesen, wo er über seine Zeit bei der NVA gesprochen hatte. Er war auch für 14 Tage im Gefängnis wg. Befehlsverweigerung. Ob das eine realistische Schilderung ist oder er die Dinge bewußt überzeichnet, kann ich nicht beurteilen.

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  4. Hallo,
    ich bin selber Jahrgang 1965, habe in der DDR gelebt und sie 1990 in den Westen verlassen. Ich entstamme einem kleinbürgerlichen Elternhaus in einer ostdeutschen Kleinstadt. Ich habe mein Abitur im gleichen Jahr wie Christian Hoffmann gemacht, war auch Kommandant bei einer Panzereinheit der NVA und habe danach, um Kulturwissenschaften studieren zu dürfen, von 87-89 im kulturellen Bereich gearbeitet.
    Zu dem Roman kann ich nur sagen, dass alles stimmt und genau so war! Gratulation Herr Tellkamp.
    Aber ich kann viele Kritiken jedoch auch nachvollziehen, da es sehr schwer ist vieles Beschriebene zu verstehen, wenn man die Zwischentöne nicht hören kann. Auch dürfte vielen Lesern in West und Ost überhaupt nicht bekannt gewesen sein, welche Parallelwelten es in der DDR gab und es entgeht ihnen viel, wenn man die als Schlüsselfiguren angelegten Literatur- und Politaristokraten den tatsächlichen Schriftstellern, Wissenschaftlern und Politikern (Hacks, Fühman, Kuczynski, von Ardenne) nicht zuordnen kann, weil man von ihnen noch nie etwas gehört hat.
    Was die sog. „Bildungsbürger“ betrifft, so konnte man sie damals nicht nur auf dem „Weissen Hirsch“ in Dresden finden, sondern überall, beim Kulturbund, der Urania und anderswo. Dies war eine Flucht aus dem Alltag, der in seinen Widersprüchen besonders in den Szenen aus den Chemiebetrieben und der Braunkohle drastisch-zutreffend beschrieben wird. Die DDR war eben wirklich ein tiefgreifend ungerechtes Land. Das wird heute leider viel zu oft übersehen.
    Im Grunde war aus meiner Sicht rückschauend doch alles schlecht; und was heute als gut gesehen wird, war nicht gut an sich, sondern geboren aus der Not, dem Schlechten etwas entgegen zu setzen, um darin zu überleben. Politisch leistet das das Buch bevölkernde Restbürgertum den eigentlichen intellektuellen Beitrag zur Einheit, denn hier ging es tatsächlich um Werte. Der grosse Rest der Ostdeutschen ist deshalb zwangsläufig enttäuscht worden nachdem sie irgendwann an Bananen satt gegessen waren, aber verlernt hatten zu verstehen, das Freiheit etwas anderes meint, als eine Reise nach Mallorca machen zu können.

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  5. Vielen Dank Mario, für Deinen Kommentar. Ich gebe Dir vollkommen Recht, Freiheit bedeutet mehr, als Reisefreiheit.
    Was das Wissen – oder eher Nichtwissen – betrifft, hätte ich mir auch einen breiteren Diskurs über das Leben in der ehemaligen DDR gewünscht. Gesine Schwan hat es versucht, aber leider wurde dies gleich wieder in Schwarz und Weiß diskutiert und einige Dinge tabuisiert. Ich habe das Leben in der DDR durch meine Besuche bei Verwandten vielschichtiger in Erinnerung.
    Vielleicht brauchen wir noch mehr Tellkamps, um auch andere Millieus zu beleuchten.

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  6. Ach, lieber Hans-Jörg, ich hab mit Tellkamp und seinem Buch meine Probleme. Es geht um die Glaubwürdigkeit eines Autors, um nicht mehr und nicht weniger – und da bleibt bei Herrn Tellkamp Vieles im Unklaren. Kennen Sie die DDR? Wissen Sie, wie damals jemand angesehen wurde, der sich freiwillig 3 Jahre zur NVA verpflichtete. Das klebt einem an bis heute. Dass sich Tellkamp in seinen Interviews dann auch stolz als Panzerkommandant geriert, ist der Gipfel. Viele wollten wie er „studieren“, haben aber diesen Preis nicht bezahlt, denn man musste ja nicht „freiwillig“ länger „dienen“. Der liebe Tellkamp ist einer, der mit Macht nach oben will, damals wie heute. Wer von Biedenkopf privat in dessen Schweizer Villa eingeladen wird, der kommt in einen seltsamen Geruch. Kennen Sie die Rezension von Denis Scheck (ARD) zu Tellkamps Buch? Der hat ins Schwarze getroffen. Auch die FAZ Rension von Volker Weidermann war sehr gut. Nur ganz blauäugig Verträumte sehen Herrn Tellkamp unkritisch und als literarischen Strahlemann. Und, was das Handwerkliche angeht, ich meine seine Art zu schreiben, da ist doch wirklich das meiste schwach: Die Figuren, die Dialoge, die überbordende Beschreibmanie. Gefällt denn das wirklich? Oder liebt man nur, was trendy und „preisgekrönt“ ist. Ich sage, Herr Tellkamp, der wirklich ein Schlauer ist, hat den Roman zur Politik geschrieben, aber nicht zur damaligen DDR-Politik (die war in vielen Teilen nicht so, wie Tellkamp beschrieben: Wo sind die widerständigen Gruppen, wo die geheime Kultur, wo ist die VIelschichtigkeit des Phänomens des DDR-Untergangs), sondern zur jetzigen CDU Sicht auf die DDR. Schau mal genauer hin, da wirst Du alle Trends finden, die jetzt von den Politikern gefordert werden. Wer aber als Schriftsteller politische Trends bedient, der schreibt Kurzatmiges, was in 5 oder 10 Jahren absolut Out ist. Bin selbst Autor und nicht ganz unerfolgreich in Deutschland und Österreich, ich weiß, wovon ich rede.

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  7. Hallo Franz,
    vielen Dank für Deinen Kommentar.
    Über den zum Teil langatmigen Schreibstil hab ich mich ja auch ausgelassen. Die beiden genannten Rezensionen kenne ich bisher leider nicht. Werd aber mal danach suchen.
    Wie man an den Kommentaren hier und anderswo lesen kann, gibt es kein einheitliches Bild über die DDR und das von Tellkamp gezeichnetete ist sicherlich nur ein literarisch verzerrtes. Einige finden sich drin wieder, andere wiederum lehnen es grundweg ab.
    Das hinter der Verleihung des Uwe Johnson-Preises, des Deutschen Buchpreises, dem Preis der Konrad-Adenauer-Stiftung eine gut geölte PR-Maschine steckt ist klar. Hat auch gut funktioniert.
    Ich hab erst nach dem Lesen des Buches einige Aussagen gegen die politische Ostalgie aus den Laudatien mit befremden wahrgenommen. Ob dahinter eine große Verschwörung der Konservativen West-Kreise mit den bürgerlichen Ostdeutschen steckt, um Teile der DDR-Geschichte in einem anderen Licht erscheinen zu lassen, vermag ich nicht zu beurteilen.
    Tellkamp plant ja angeblich einen zweiten Teil seines Turms. Ich denke, ich werd mir den Twin Tower sparen.

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  8. sehr geehrter herr schmidt,
    ich habe mich zwar erst bis seite 209 gekämpft, doch bin ich froh, ein forum gefunden zu haben, in dem ich meinem ärger luft machen kann. ich habe, weiß gott, schon einiges an seitenreicher literatur gelesen (nur beim „mann ohne eigenschaften“ habe ich aufgegeben), doch was herr tellkamp vom anfangs noch geneigten leser will, wird mir wohl verschlossen bleiben. ich werde das buch in den rohstoffkreislauf zurückführen.
    spießig und autistisch – das sind die worte, die mir einfallen, wenn ich an das buch denke. spachlich manieriert beschreibt er einen mikrokosmos, der, wenn es ihn denn gegeben haben sollte, mich nicht interessiert. mich nicht und alle, die ich kenne. wo ist der literarische wert, wenn tellkamp die exakten bezeichnungen von waren und geschäften zitiert – das macht jeder stammtisch. welche funktion hat es, wenn er einerseits genaue ortskenntnisse belegt, zugleich aber zum beispiel die weißeritz als „bergfrau“ bezeichnet? usw. usw.
    … und wer freiwillig länger zur NVA ging, hat sich ohnehin selbst denunziert.
    mit freundlichen grüßen
    dieter zickert

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  9. Nach den ersten 200 Seiten hinterlässt der Roman bei mir zwiespältige Gefühle. Einerseits gelingt es Tellkamp ganz genau, die Stimmungen und Empfindungen der 1980er Jahre ganz genau wiederzugeben. Das Land, die Stadt, von denen er schreibt, erkenne ich trotz aller Verfremdungen wieder. Auch das Lebensgefühl jener Zeit in der DDR konnte er mir zurückgeben. Dafür kann ich mich vor ihm nur in stiller Ehrfurcht verneigen.
    Andererseits neigt er leider all zu oft dazu, Klischees zu bedienen, die so einfach nicht den Tatsachen entsprechen und offensichtlich nur die Entwartungen der westlichen Leserschaft über das Leben in der DDR erfüllen soll. Das ist sehr schade und tut dem Roman nicht gut.
    Eine kurze Bemerkung zur Diskussion um den Wehrdienst in der DDR. Natürlich konnte man auch studieren, wenn man nur die geforderten 18 Monate ableistete, man musste nur gut genug sein oder auch etwas Geduld und Stehvermögen aufbringen. So bin ich auch zu meinem Studium gekommen. Ging es jedoch darum, sofort nach seinem Wehrdienst sein Wunschstudium an seiner Wunschuniversität absolvieren zu können, oder wollte man privilegierte berufe wie den des Arztes oder Juristen ergreifen, kam man ohne den dreijährigen Wehrdienst kaum zum Ziel. Das hing auch niemandem an, denn das war die Normalität. Außerdem, welcher 18jährige ist denn schon selbstbewusst und gefestigt genug, dem massiven Druck, den Einschüchterungen und Versprechungen der Lehrer UND Werber dauerhaft zu widerstehen?

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